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Der Sinn des Lebens ist kein Parkplatz: Viktor Frankl zeigt auch heute noch, wie man besser weiterfährt. Vor 120 Jahren wurde der berühmte Psychiater in Wien geboren. Eine persönliche Hommage.

«Kennen Sie das, wenn’s mit einem Mal nicht mehr so rund läuft? Wenn Unsicherheiten oder Ängste sich in Kopf und Herz einnisten? Über den drohenden Verlust des bis vor kurzem als sicher geltenden Arbeitsplatz. Über das Ungewisse nach der Pensionierung. Über das Älterwerden der Eltern. Überhaupt über den Sinn dessen, was das alles hier auf Erden eigentlich soll.»


Diese Fragen sind nicht der Anfang eines schlecht geschriebenen Drehbuchs, sondern einfach nur die Sorgen meiner Klientin.


Oh ja, wie gut ich diese Gedanken und Gefühle doch selbst kenne. Sie vielleicht auch.


Es sind unschöne Aussichten, die sich unter Umständen völlig unerwartet auszubreiten vermögen. Was tun in solchen Zeiten? Mit Freunden sprechen? Im besten Falle ja. Den Pfarrer konsultieren? Vielleicht. Das ist immerhin gratis. Oder doch eher Mozart zur Beruhigung? Klingt hoffnungsvoll. Zumindest für den Augenblick. Sich an einen Psychologen wenden? Nein. Ich doch nicht! So schlimm wird’s ja wohl nicht sein. Aber dann wird’s doch nicht besser, im Gegenteil, und Sie hören bereits das Wort «depressive Störung» in Ihren Ohren. Höchste Zeit zu handeln.


In einer turbulenten Zeit meines Lebens bin ich Viktor Emil Frankl begegnet. Mit dem Ausspruch «Es kommt nie und nimmer darauf an, was wir vom Leben zu erwarten haben, viel mehr lediglich darauf: was das Leben von uns erwartet», hat er mich wachgerüttelt. Weil ich begriffen habe, dass es nicht den Sinn des Lebens gibt, sondern ich ihn mir geben muss.


Wozu statt warum


Sie lesen richtig. Ich spreche vom ehemaligen KZ-Häftling, Holocaustüberlebenden und österreichischen Psychiater, der am 26. März seinen 120. Geburtstag feiern würde. Vor fast dreissig Jahren verstorben, lebt seine Lebensphilosophie in unzähligen Büchern weiter. Und sie tut es spürbarer denn je in unseren «unsinnigen» Zeiten, wie ein Blick in die «Ratgeber-fürs-Leben»-Regale von Buchhandlungen verrät: Frankls Beststeller «Trotzdem Ja zum Leben sagen», aber auch die kürzlich wiederaufgelegten Titel «Über den Sinn des Lebens» oder «Sinn, Freiheit und Verantwortung» finden auch bei jüngeren Menschen grossen Anklang. Wen wundert es angesichts des ganzen Social-Media-Mülls und materiellen Plunders in unserem Alltag – alles unnötiger Schrott, der nur dazu da ist, unsere Zeit zu stehlen, die wichtigste Ressource, die wir in unserem Leben haben.

    

Schon immer hatte ich ein Faible für literarische Lebensunterstützung. Nur eben, mit der Umsetzung in die Praxis ist es bekanntlich nie ganz leicht. «Man könnte. Aber man kann nicht» heisst es in «Messmers Gedanken» von Martin Walser. Zur Klärung nur: Es sind, trotz gleichen Namens, nicht die meinigen, obwohl sie bisweilen ebenso «gemildert melancholisch» und Halt suchend daherkommen.


Was also tun? Man könnte sich mit der stoischen Philosophie befassen, zum Beispiel mit Marc Aurels «Selbstbetrachtungen». Und damit – wenn’s klappt – gelassener durchs Leben gehen. Die Sprüche des Philosophenkaiser sind deshalb gut, weil er Recht hat. Aber ich kriege es halt schlecht hin, mich allein vom Wissen leiten zu lassen, sprich, mich emotional freizumachen von den Dingen, die nicht meiner Kontrolle unterliegen. So lautete die ursprüngliche Idee der Stoiker.


Noch bequemer wäre es, wenn man einfach mal die grössten Lebensfehler vermeidet, um ein besseres Leben zu führen. Das Buch «Die Not-To-Do-Liste» von Rolf Dobelli böte dazu Lösungsmöglichkeiten. Allerdings bin ich nicht davon überzeugt, dass Menschen durch weniger Fehler beziehungsweise durch die Beschränkung von Schwächen zufriedener werden. Näher ist mir da schon der französische Neurologe und Psychiater Boris Cyrulnik, der einmal meinte: «Wenn Sie glücklich sein wollen, dürfen Sie nicht um jeden Preis dem Unglück ausweichen. Eher sollte man danach suchen, wie man es meistern kann.»


Diesem Ausspruch hätte Viktor Frankl mit Sicherheit zugestimmt: Er wusste aus eigener Erfahrung, dass es kein glückliches Leben per se gibt. Da kann ein Psychoanalytiker noch so lange im Unbewussten seines Klienten herumwühlen oder in dessen Kindheit nach den Gründen für das Übel im jetzigen Leben suchen. Für Frankl wichtiger ist aber die Frage nach dem Wozu, nicht die nach dem Warum.


«In der Psychoanalyse müssen Sie sich auf eine Couch legen und Dinge sagen, die unangenehm zu sagen sind. In der Logotherapie dürfen Sie sitzen und müssen Dinge anhören, die unangenehm zu hören sind». So deutete Frankl einmal etwas plakativ den Unterschied zwischen Sigmund Freuds Psychoanalyse und seiner «Logotherapie und Existenzanalyse» (das griechische Wort «logo» bedeutet hier «Sinn»). Die Logotherapie ist in der Tat nichts für Menschen, die das Wesentliche nur ungern hören wollen. Das Wesentliche aber ist das menschliche Leben, und dieses bewegt sich halt nun mal zwischen Gelingen und Scheitern. «Mit dem Scheitern ist Schmerz verbunden. Mit Gelingen das Gefühl der Erfüllung», urteilt lakonisch mein Lehrer Wolfram Kurz, der über achtzigjährige Religionspädagoge und Schüler Viktor Frankls.


«Ich muss mir von mir nicht alles gefallen lassen»


Frankl, der schon als Schüler mit Freud korrespondierte, glaubte viele Jahre selbst an das berühmte Strukturmodell der Psyche seines Lehrers mit dem «Es», «Ich» und «Über-Ich». Dann kam ihm die zündende Idee, dass in dieser Perspektive etwas fehlte: die geistige Dimension des Menschen. Damit meinte Frankl das spezifisch Humane, wie etwa das eigenständige Schaffen und Gestalten, den Glauben, das Hoffen, das Lieben, das Gewissen, auch den Lebensdurst. Und insbesondere die freie Stellungnahme des Menschen zu sich selbst und zur Welt.


Methoden zum «Nein sagen» etwa werden heutzutage im Rahmen eines Resilienz-Trainings für viel Geld angeboten. Zur Stressprävention, wie es heisst. Den Burnout gab’s zu Frankls Zeiten noch nicht in dem Masse wie heute, dafür das sogenannte existenzielle Vakuum, das Erlebnis innerer Leere. Beide Symptome sind geprägt von einem Sinnlosigkeitsgefühl. «Ich muss mir von mir nicht alles gefallen lassen», ist ein häufig zitiertes Bonmot Frankls. Es hilft vielen Menschen, beispielsweise ihrer Trübsal-Falle mittels «Einstellungsmodulation» zu entkommen. Oder etwas salopper formuliert: Ich kann mich noch immer selbst entscheiden, wie lange ich mich im Jammertal aufhalten möchte. 

      

«Wie arbeitest du denn logotherapeutisch?», fragte mich neulich ein Kollege. «Nun», sagte ich, «im Grunde helfe ich den Leuten, sich selbst zu begegnen.» Er nickte interessiert. «Das bedeutet vor allem Arbeit. Viel Arbeit.» Er seufzte. «Also kommen die Leute zu dir, weil sie sich entwickeln wollen?» Gerne hätte ich euphorisch genickt. Aber so läuft das nicht. Niemand kommt, weil es ihm blendend geht und er sein Glück noch perfektionieren möchte. Das wäre ja, als würde man zum Coiffeur gehen, obwohl einem die Frisur bereits perfekt steht.


Meine Klienten wollen meistens etwas weghaben, sei’s eine Angst, ein Beziehungskonflikt, eine Zwangsgedanke oder sonst ein negatives Muster. Das ist aber nur die eine Seite der Medaille. Das andere ist herauszufinden, was sie überhaupt möchten, wenn sie diese Probleme nicht mehr haben. Darum geht es. Ich versuche meine Klienten anzuleiten, immer wieder an sich selbst zu arbeiten. Damit sie ihre bis anhin unbekannten Kräfte entdecken und damit ihr Leben besser bewältigen. Vielleicht sogar kosten können. Insofern ist Logotherapie auch Resilienz: So wie Sie Vitamin C zur Stärkung des körpereigenen Immunsystems zu sich nehmen, kann Ihnen die Logotherapie zur Stärkung der geistigen Abwehrkräfte verhelfen.


Hilfe zur Selbsthilfe


Frankls Texte – manche seiner Gedanken erinnern an Aussprüche von Dietrich Bonhoeffer oder sind direkt an Weisheiten von Goethe, Nietzsche oder Kierkegaard angelehnt – fordern uns immer wieder auf, nach dem «heilen Kern» in uns selbst zu suchen, nach dem also, was uns stärkt und uns unabhängig macht von Geld, Macht und Ruhm. Die Frage nach dem «was steckt in dir?» hält ein Leben lang wach. Das beinhaltet zum Beispiel auch die Verantwortung, Vertrauen in sich und ins Leben zu entwickeln. Auch dafür muss sich ein Mensch bewusst entscheiden.  

  

In eine logotherapeutische Sitzung kommen Menschen mit ganz unterschiedlichen Anliegen: Die einen müssen oder möchten sich neu orientieren, wie der eben pensionierte Fachhochschuldozent, der «keine Aufgabe» mehr im Leben hat und keine Ahnung hat, was mit dem Rest seiner Lebenszeit anzufangen. Oder andere, die von Lust- oder Antriebslosigkeit befallen sind, wie jene junge Frau, die trotz Faszination für ihr Biologiestudium von Zweifeln und Fragen der Sinnhaftigkeit bewegt wird und nicht weiss, wohin ihr Weg führen wird und wie sie ihre spirituelle Seite ausleben könnte. Ich freue mich immer für diese Menschen, selbst wenn die bevorstehenden Aufgaben noch gross erscheinen. Den ersten Schritt haben sie getan, nämlich ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. 


Auch Trauer ist für viele Menschen Auslöser dafür, sich mit der Logotherapie auseinanderzusetzen. Dieses Gefühl ist Frankl, der fast seine gesamte Familie im Holocaust verloren hat, besonders bekannt: «Was wir ausstrahlen in die Welt, die Wellen, die von unserem Sein ausgehen, das ist es, was von uns bleiben wird, wenn unser Sein längst dahingegangen ist.» Ja, auch Trost spenden Frankls Texte. Weil er die Tragik des Menschseins selbst erfahren hat. Glücklicherweise aber auch die Freude am Leben.


Frankls Weisheiten machen das Leben ungleich reicher. Seine Rezepte dienen als Lebensstütze. «Mit den Gedanken der Logotherapie ist es ein bisschen wie bei einem Sonnenschutzmittel», urteilte einmal sehr treffend die Psychologin und Psychotherapeutin Prof. Boglarka Hadinger, Leiterin des Instituts für Logotherapie Tübingen/Wien: «Sie schützen einen davor, wenn die Dinge des Lebens zu hart, zu stark werden.»


In der Tat: Mit Frankls «Regenschirm» gelingt es mir hin und wieder sogar, den Witterungen des Schicksals ein Schnippchen zu schlagen. Die «Logotherapie und Existenzanalyse» ist ein zeitloses Meisterwerk, ein Bravo für die Psychologie der Hoffnung. Sie ist es nicht zuletzt dank seiner Frau Elly, die mir vor ein paar Jahren launig-witzig erzählte, dass sie es eigentlich war, die ihrem nach dem Krieg schwer depressiven Mann das Leben gerettet habe. 

 
 
 

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