Zwischen Tess und mir: Geschichte, Freundschaft und Shanghai
- Matthias Messmer
- 20. Sept.
- 3 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 21. Sept.

Ja, sie war die Expertin für das «alte» Shanghai, also die Stadt vor der kommunistischen Ära, also vor 1949. Sie war eine Pionierin unter den Historikern und eine leidenschaftliche Verfechterin des architektonischen Erhalts des «alten» Shanghai. Als solche wird Tess Johnston (17. September 1931 – 14. September 2025) bei China-Forschern immer in Erinnerung bleiben.
Für mich persönlich war Tess weit mehr als das. Sie war ein Mensch, den man sich nicht aussuchen kann, sondern dem man im Leben unerwartet begegnet. Und das Timing um die Jahrtausendwende hat gestimmt. Unsere Wege haben sich gekreuzt, trotz Altersunterschied und allem anderen. Die geistige Welt hat es möglich gemacht.
Tess war für mich in vielerlei Hinsicht ein Vorbild und eine «alte» Freundin. Sie hat mich vor Jahren bei meinen eigenen Forschungen über diese Stadt und über die dortige Präsenz von Westlern mit all ihren Ressourcen unterstützt. Sie stellte mir Dokumente, Gespräche, Ideen und Anregungen zur Verfügung und vernetzte mich mit weltweit zu diesem Thema forschenden Akademikern. Sie sparte nie mit Informationen und war stets bereit, all ihre Kontakte mit interessierten Freunden zu teilen.
Ich habe Tess vor mehr als 25 Jahren über Irene Eber kennengelernt. Eber war eine renommierte deutsch-israelische Sinologin, die das bemerkenswerte Schicksal einer Holocaustüberlebenden in ihrem Buch «Ich bin allein und bang» dokumentiert hatte. Tess wäre für die Vertreter der «positiven Psychologie» ein Paradebeispiel gewesen. Sie behielt stets ihre optimistische Lebenshaltung, auch in widrigen Umständen. Selten liess sie etwas unberührt, es sei denn, sie schien es für unnötig, sich damit eingehender zu befassen. Und ihre Neugier auf alles Mögliche und Unmögliche dieser Welt war grenzenlos.
Als Tess 1981 mit dem US-Diplomatendienst nach Shanghai kam, war sie sofort fasziniert von der westlichen Architektur inmitten Chinas – eine Mischung, die sie als «absolut wundervoll» beschrieb. Während andere diese Gebäude als Relikte der kolonialen Vergangenheit ignorierten, begann Tess, sie zu dokumentieren, ihre Geschichten zu erforschen und ihre Schönheit mit Kamera, Notizbuch und unermüdlicher Neugier festzuhalten.
Geboren in Charlottesville, Virginia, lebte Tess ein echtes Weltleben: Stationen ihres Diplomatinnen-Daseins führten sie u.a. nach Ost-Berlin, New Delhi, Saigon, Teheran und Paris. Doch Shanghai liess sie nicht mehr los – sie blieb 35 Jahre. Während die Stadt sich von der Kulturrevolution zum globalen Wirtschaftszentrum wandelte, dokumentierte Tess das Verschwinden der alten Viertel, Strassen und Villen. Ihr Erbe sind zahlreiche Bücher (u.a. «A Last Look: Western Architecture in Old Shanghai» oder «Shanghai Art Deco»), inspirierende Vorträge und der Aufbau einer lebendigen Community von Historikern, Autoren und «Shanghailändern», die sich dank ihr auf Spurensuche begeben haben und ihre Begeisterung weitertragen werden.
Von Herzen danke ich dir, liebe Tess, für deine «Präsenz» während meines eigenen fast zehnjährigen Aufenthalts in Shanghai: für die gemeinsamen Sonntagmorgenbesuche auf dem Antiquitätenmarkt an der Fangbang Lu, wo du stets Ausschau nach Kuriositäten gehalten hast; für die gemeinsamen Essen im «Grape», deinem Lieblingsrestaurant in einer ehemals russisch-orthodoxen Kirche an der Xinle Lu; und natürlich für deine Tee-Einladungen in deinem reich geschmückten Zuhause – davon gab es im Laufe der Jahre viele in Shanghai. Unvergesslich sind auch deine Autofahrkünste in einem Mini (das war es doch, nicht wahr?), als noch viel mehr Velofahrer unterwegs waren und Cha-Cha, dein geliebter Dachshund, auf meinem Schoss sass und die Fahrt durch die Strassen der Metropole ebenso wie ich im Fahrtwind genoss.
Jetzt bist Du, Tess, an einem anderen Ort. Möge dich dort eine Gemeinschaft von Freundinnen und Freunden und Dingen umgeben, die dir viel Freude bereiten. Mit deinem Abschied ist etwas weggegangen, aber es ist auch vieles zurückgeblieben. Für mich sind es eine grosse Dankbarkeit und die Erkenntnis, dass eine Freundschaft mit einem Menschen nichts in der Welt aufwiegen kann.
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Fast zeitgleich zu Tess’ Abschied von dieser Welt ist mein Beitrag über den chinesischen Bürgerkrieg in der Neuen Zürcher Zeitung erschienen:
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