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Vergessen wir die Falschen? Eine Denkpause mit Norbert Elias

Aktualisiert: 16. Juli

 Norbert Elias, ca. 1980, Quelle: Norbert-Elias-Stiftung, Fotograf(in): unbekannt.
 Norbert Elias, ca. 1980, Quelle: Norbert-Elias-Stiftung, Fotograf(in): unbekannt.

Die Beschleunigungstendenzen der Moderne haben einen hohen Preis: Dinge und Menschen geraten im Strudel der rastlos über uns hereinbrechenden Ereignisse rasch in Vergessenheit. In diesen Sog der gesellschaftlichen Amnesie werden auch berühmte Persönlichkeiten hineingezogen, deren Gedanken und Ideen uns heute noch so viel zu sagen hätten.


Gedenktage bieten immerhin die Möglichkeit, für einen Moment innezuhalten. Wir können erkennen, dass es bereits vor uns Menschen gab – vielleicht sogar weitaus gescheitere als wir – die sich mit Themen auseinandergesetzt haben, die wir auch jetzt noch als besonders dringlich empfinden. Unser Fortschrittsglaube und das Bedürfnis, stets alles im Griff zu haben, verhindern leider nur allzu oft den Blick in die Vergangenheit. Dieser kann mitunter viel ertragreicher sein als der tägliche Stress, der durch die Hektik des Immer-Alles-Tun-Müssens entsteht.

 

Norbert Elias und der Prozess der Zivilisation

 

In diesem Sommer ist so ein Erinnerungstag: Vor 35 Jahren, am 1. August 1990, starb in Amsterdam Norbert Elias, über den heutzutage fast nur noch Akademiker Bescheid wissen. Leider. Dabei hatte dieser kluge Kopf sehr vieles zur Geschichte der Menschheit zu sagen: Berühmt wurde der deutsch-britische, ursprünglich in Breslau geborene Soziologe durch sein Werk «Über den Prozess der Zivilisation». In diesem Buch untersuchte er den historischen Wandel in westlichen Gesellschaften über Jahrhunderte hinweg und stellte fest, wie sich Verhalten und Emotionen der Menschen im Laufe der Zeit verändert hatten.

 

Für mich als Sozialwissenschafter und Coach ist es besonders wertvoll zu erkennen, wie Elias die traditionelle wissenschaftliche Trennung zwischen Psychologie, Soziologie und Geschichts-wissenschaft zu überwinden versuchte. Er kritisierte beispielsweise traditionelle Ansätze, die das Individuum und die Gesellschaft als getrennte Entitäten betrachteten. Stattdessen betonte er immer wieder deren untrennbare Verbindung: «Die ‚Umstände‘, die sich ändern, sind nichts, was gleichsam von ‚aussen‘ an den Menschen herankommt; die ‚Umstände‘, die sich ändern, sind die Beziehungen zwischen den Menschen selbst.»

 

Elias galt lange Zeit als Aussenseiter, nicht zuletzt wegen seiner jüdischen Herkunft, aber auch weil seine breit angelegten Untersuchungen langfristiger gesellschaftlicher Prozesse in keine der akademischen Disziplinen passten. Noch heute sind viele seiner Werke wenig bekannt.

 

Über Einsamkeit und Endlichkeit

 

Gerade jetzt lohnt es sich, etwa in Elias’ Schrift «Über die Einsamkeit der Sterbenden» zu lesen. Nicht weil man alt und lebensmüde ist, nein, eben gerade nicht! Sondern, weil man die Hoffnung hat, noch einige Jahre auf dieser Welt zu sein und man sich immer wieder vergegenwärtigen soll und vielleicht sogar darf, wie gross die Abhängigkeit der Menschen voneinander bzw. das Aufeinander-Angewiesensein ist:   


«Dass der Sinn alles dessen, was ein Mensch tut, in dem liegt, was er für andere bedeutet, und zwar nicht nur für die Gegenwärtigen, sondern auch für die Kommenden, also seine Abhängigkeit von dem Fortgang der menschlichen Gesellschaft durch die Generationen hin, gehört sicherlich zu den fundamentalen Abhängigkeiten der Menschen voneinander.»


Elias stellt hier die wichtige Beziehung zwischen dem, was ein Individuum mit seinem Leben anfängt, und dem Sinn, den es für seine Mitmenschen hat, her. Es geht also nicht nur darum, Spuren des eigenen Erdendaseins zu hinterlassen, sondern auch darum, ihnen eine Bedeutung für künftige Generationen zu geben.


Der Soziologe nimmt anschliessend Bezug auf die Endlichkeit des eigenen Lebens, die in der heutigen Zeit von Anti-Aging und Unsterblichkeitsparanoia («Der Sieg über den Tod») immer weniger Gehör findet:

 

«Das Verständnis für diese Abhängigkeit aber wird gegenwärtig gerade dadurch ganz besonders erschwert, dass man so sehr zu vermeiden sucht, der Begrenztheit des einzelnen menschlichen Lebens, also auch der des eigenen, und dem kommenden Zerfall der eigenen Person ohne Verdeckung ins Auge zu sehen, und es daher unterlässt, sie bei der Art, wie man sein Leben – seine Arbeit, seine Freuden – einrichtet, insbesondere auch, wie man sich zu anderen Menschen verhält, in Rechnung zu stellen.»

 

Norbert Elias ist bekannt für seine dichten Sätze. Einfacher formuliert könnte man sagen, dass es dem Menschen angesichts der eigenen Begrenztheit des Lebens vielleicht besser anstünde, sich statt einer übertriebenen Selbstverwirklichung mehr um das Wohl des Miteinanders zu kümmern. Oder noch prägnanter: Sich angesichts des uns alle irgendwann einholenden Todes von der Anmassung der eigenen Wichtigkeit zu befreien.  

 

Ein Gedenktag ist immer auch eine «Entschleunigungsoase» (Hartmut Rosa). Mit dem Andenken an den Tod von Norbert Elias vor 35 Jahren möchte ich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Sie, liebe Leserinnen und Leser, auf einen äusserst vielseitigen Gelehrten des 20. Jahrhunderts aufmerksam machen und gleichzeitig daran erinnern, dass die Interdependenz mit anderen eine Grundstruktur menschlichen Lebens ist.

 

Wie sagte schon Theodor Fontane? «Was einzig und allein dauernd dem Menschen genügt, ist nur immer wieder der Mensch.»  


 
 
 

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