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«Es gibt keine grössere Genugtuung, als schwierige Zeiten aus eigener Kraft gemeistert zu haben.»

Aktualisiert: 27. Apr. 2023


Ruedi Schatz und ich vor 45 Jahren

Sie kennen das: Man hat eine Grippe und muss zuhause bleiben. Die Tage sind lang, und man hat weder Lust am Computer zu arbeiten noch irgendetwas zu lesen. So ähnlich ist es mir vor einiger Zeit passiert.


Irgendwann bin ich dann doch aufgestanden und an einem Büchergestell vorbeigegangen. Das reichte, um stehenzubleiben und aufs Geratewohl einen Band herauszuholen. Ich mache das hin und wieder, wenn ich nicht gerade ein bestimmtes Buch suche. Ich glaube, dass es kein Zufall ist, welches man herauszieht, auch nicht, auf welcher Seite man es öffnet.


An jenem Tag handelte es sich um die Reden und Schriften (St. Gallen 1980) von Ruedi Schatz, einem ehemaligen, von allen Seiten geschätzten Schweizer Politiker, Bankier und Bergsteiger. Ich blättere ein bisschen im Buch und lese dann auf Seite 64: «Es gibt im Leben eines Menschen keine grössere Genugtuung, als schwierige Zeiten aus eigener Kraft gemeistert zu haben.»


Ruedi Schatz war eine ausserordentliche Persönlichkeit, ein immens kluger und humanistisch eingestellter Mensch, der leider viel zu früh bei einem Kanu-Unfall aus dem Leben gerissen wurde. -- Gerade in diesen komplexen Zeiten denke ich häufig an Ruedi, den so liebenswürdigen Familienfreund, und überlege mir dabei, wie viel ich heute mit ihm über das Menschsein gesprochen hätte. Es wäre mit Sicherheit ein wertvolles Gespräch geworden. Jetzt muss ich diesen Dialog mit mir selbst führen.


Der Autor hatte in diesem Zitat das Wort Genugtuung verwendet. Bestimmt nicht ohne Absicht, sonst hätte Ruedi stattdessen auch von «Freude» sprechen können. Genugtuung ist – laut Duden – entweder eine innere Befriedigung oder eine Entschädigung für ein zugefügtes Unrecht. Die zweite Deutung entspricht am ehesten dem lateinischen Begriff der «satisfactio», der Wiedergutmachung also, wie beispielsweise die katholische Kirche einen Teilbereich der Busse bezeichnet. Darüber spreche ich an dieser Stelle nicht.


Das Wort «Genugtuung» drückt also in der ersten Deutung nach Duden einen Gefühlszustand aus, nämlich das Gefühl eines Menschen, das Richtige und Notwendige getan zu haben. Etwas, das eine Person sich durch einen Kraftakt erarbeitet und dann auch erreicht hat. Das Gefühl von Genugtuung kann in den unterschiedlichsten Situationen entstehen: Wenn man als Teamleiter einen wichtigen Vortrag vor kritischem Publikum gelassen gehalten oder mit seinen Mitarbeitern bewusst wertschätzend kommuniziert hat. Wenn man nach einem unnötigen Streit seinem Widersacher die Hand reicht. Wenn man trotz Krankheit oder körperliche Beeinflussung das Leben mit Zuversicht gestaltet. Wenn man als Eltern seine Kinder sicher durch die Adoleszenz begleitet hat. Wenn man sich, nach Jahren der Suche, beruflich erfolgreich neuorientiert hat. Oder wenn man die Vergänglichkeit des Lebens akzeptiert hat. All dies und mehr kann Genugtuung auslösen.


In der Sprache der positiven Psychologie (Martin Seligman) beispielsweise spricht man von «Achievement» oder «Accomplishment» als einem wesentlichen Element, damit Menschen Wohlbefinden als Grundlage für Motivation und Leistung erfahren. Ich persönlich ziehe das deutsche Wort «Genugtuung» vor, weil es mir passender zum Menschsein erscheint.


Für mich ist Genugtuung etwas Ähnliches wie Sinn. Auch Sinn muss gefunden werden, er liegt einem nicht einfach vor den Füssen. Sinngebung kann man sich erarbeiten, oder – gemäss dem grossen Psychiater und Neurologen Viktor Frankl – auf dem Weg über die Verwirklichung von Schaffens-, Erlebnis- und Einstellungswerten erfahren. Täglich, stündlich, in jedem Augenblick.


Selbstverständlich ist es für jeden von uns eine Genugtuung, ein Ziel aus eigenem Antrieb und eigner Kraft erreicht zu haben. Doch manchmal ist das schwierig, und man braucht Mitmenschen, die einem helfen, überhaupt zu einem Gefühl der Genugtuung zu gelangen. Zumindest das Gespür dafür zu finden. Das gilt übrigens auch für den Sinn: Manchmal ist man auf die Unterstützung von aussen angewiesen, um die Sinnhaftigkeit des eigenen Tuns und Lebens zu finden.


Sinnhaftigkeit und Genugtuung bilden ein Paar. Beide erfordern Arbeit, können aber auch geübt werden. Sie sind, wenn man sie erfahren darf, ein Geschenk. Als Coach ist es mir ein Anliegen, eine Klientin oder einen Klienten anzuregen, Sinnmöglichkeiten in ihrem eigenen Leben zu entdecken und Momente der Genugtuung zu erkennen.


Ich weiss nicht, ob Ruedi Schatz Viktor Frankls Gedankengut gekannt hatte. Ich weiss nur, dass es kein Zufall war, dass ich gerade während meiner Grippe auf sein Buch gestossen bin.


Das Zitat des stets in meiner Erinnerung bleibenden väterlichen Freundes schliesst mit den folgenden Worten: «Jetzt gilt es für jeden, sich darauf zu besinnen, was er selbst für sein Leben und freiwillig für dasjenige seiner Mitmenschen tun könnte, wofür er selbst hinstehen, welche Risiken er selbst tragen, welchen Gefahren er selbst trotzen will. Wenn wir das nicht mehr können, dann geben wir die Freiheit selbst auf, ohne dass sie uns jemand wegnimmt.»


Ich wünsche Ihnen viele Momente der Genugtuung. Denn Genugtuung schenkt uns immer wieder von neuem die Kraft, den Alltag sinnvoll und lebensfreundlich zu leben!

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