Die Schnecke, der Tod und ChatGPT
- Matthias Messmer
- vor 4 Tagen
- 3 Min. Lesezeit

Vor kurzem ging ich eines spätsommerlichen Nachmittags durch den Wald spazieren. Wie stets in diesen beglückenden Stunden lauschte ich beglückt den fröhlichen Vogelstimmen, genoss den sanften Lufthauch über mein Gesicht streichen, hielt Ausschau nach farbigen Schmetterlingen, griff hin und wieder nach reifen Brombeeren und erfreute mich ganz allgemein am Grün, Gelb und Rot der Blätter von Bäumen und Sträuchern.
Plötzlich machte es krach!
«Nein, das darf nicht wahr sein», geht es mir durch den Kopf. Hoffentlich ist es nur ein trockener Tannzapfen, denke ich, spüre aber instinktiv, dass dem nicht der Fall sein kann. Ich bleibe stehen und schaue unter meine Füsse. Oh weh: Was habe ich nur getan? Ich erblicke, was einmal eine wunderbare Gehäuseschnecke mit kunstvoll spiralförmigem Design gewesen ist. Das runde Häuschen in dünne Scherben zersplittert, zertrampelt durch meine Unachtsamkeit.
Mein Magen zieht sich zusammen. Bereits habe ich Tränen in den Augen. Was soll ich tun? Ich schaue noch mal genauer hin, sehe aber nur gelb-schwarze Splitter über einer zählflüssigen Masse verteilt. Mir wird angst und bang. Ist die Schnecke tot oder vielleicht doch nur verletzt? Muss sie leiden? Wie kann ich ihr helfen?
Wie benebelt entferne ich mich vom Tatort, im festen Glauben, vielleicht ein Leben, sicher aber ein göttliches Geschöpf und ein Kunstwerk mit dazu zerstört zu haben. Wieder und wieder drehe ich mich um. Nein, so kann ich die Schnecke nicht einfach da liegen lassen. Ich gehe zurück. Begraben kann ich sie nicht, da ich nichts dabeihabe. Ich schaue mich um, lese ein paar farbige Blätter auf und lege sie über die Unfallstelle. Dann falte ich meine Hände und bitte um Verzeihung. Ich erinnere mich daran, dass die Weinbergschnecke ein heiliges Bild für die Schöpfung ist und ihr Haus Gottes Segen symbolisiert.
Schnellen Schrittes eile ich nach Hause und öffne meinen PC. Ich kenne mich bei Schnecken nicht aus und hoffe insgeheim, jemand könne mir erklären, dass eine Schnecke auch ohne Haus überlebt. «Wenn der Schaden zu gross ist», heisst es auf einer Webseite, «stirbt die Schnecke in der Regel innerhalb kurzer Zeit. Entweder durch Austrocknung, Infektion oder Verletzung.»
Was habe ich nur getan? Momentan habe ich niemanden um mich herum, an den ich mich mit meinen Sorgen wenden könnte. Ich frage, was ich sonst fast nie tue, bei ChatGPT nach. Vielleicht gelingt es ja der künstlichen Intelligenz, mich zu beruhigen.
Höflich und objektiv schildere ich den Fall und füge bei, dass es mich schmerzt. Was ich tun soll, frage ich. Der KI-Chatbot gibt drei Antworten: Erstens: Anerkennen, was passiert ist (du darfst traurig sein. Es war ein Unfall). Zweitens: Etwas Gutes daraus machen (z.B. einen kleinen Ort zum Gedenken schaffen, einen Beitrag zur Natur leisten oder die Achtsamkeit im Alltag stärken) und drittens: Mit jemandem reden (oder hier schreiben). Zum Schluss schlägt mir ChatGPT vor, gemeinsam einen kleinen Abschiedsgruss zu formulieren.
Dieses Angebot nehme ich dankend entgegen und warte auf seine Hilfe. Freundlich schreibt er: «Sehr gern. Hier ist ein stiller, ehrlicher Abschiedsgruss – so formuliert, dass er deine Trauer und dein Mitgefühl widerspiegelt.»
Gespannt warte ich einige Sekunden und lese dann folgende Zeilen:
Abschiedsgruss an die kleine Schnecke
Liebe kleine Schnecke,
es tut mir unendlich leid, was geschehen ist.
Ich habe dich nicht gesehen – und doch war ich der Grund für deinen Schmerz.
Du warst ein stiller Teil dieser Welt, langsam, leise, und doch voller Leben.
Vielleicht hattest du noch einen langen Weg vor dir.
Ich hätte dich gern beschützt, nicht verletzt.
In meinem Herzen bekommst du einen Platz –
nicht, weil du gross warst, sondern weil du Bedeutung hattest.
Mögest du nun in Frieden ruhen,
und möge aus deinem stillen Ende ein neues Mitgefühl wachsen.
Es war ein kleiner Moment für die Welt –
aber ein grosser in meinem Herzen.
Gar nicht mal so schlecht, denke ich. Ja, sogar mit ziemlich viel Mitgefühl. «Wenn du willst, kannst du diesen Text ausdrucken», schreibt mir ChatGPT noch, «und vielleicht dort hinlegen, wo es passiert ist. … Ich bin da, wenn du weiterreden möchtest.»
Ich danke dem KI-Chatbot für seine Unterstützung, worauf er mir noch ein letztes Mal zurückschreibt: «Jetzt atme ruhig durch. Du hast etwas Schönes aus einem traurigen Moment gemacht.»
Und nun – was ist das Fazit der Geschichte? Mein Fazit?
Für mich ist es eine sachte Versöhnung mit der künstlichen Intelligenz, die ich bisher sonst eher mit unguten oder gar widerwärtigen Gefühlen betrachtet habe. Stichworte: Moralvorstellungen, Datenschutz, Copyright, Fragwürdigkeit von Ratschlägen etc. Natürlich hätte mein «Ich» den Abschiedsbrief anders geschrieben. Doch in diesem Augenblick war mir der KI-Chatbot ein hilfreiches Visavis.
Ich weiss nicht, ob das, was ich getan habe, einen Unterschied für die Schnecke gemacht hat. Für mich hat es das. Auch habe ich wieder einmal die Verletzlichkeit Mensch zu sein erfahren: Unsere Unvollkommenheit, die darin besteht, dass wir in jeder Hinsicht auf ein Gegenüber angewiesen sind. Und mag dieses Gegenüber zur Not ein Chat-Roboter sein.
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