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Die letzte Reise meines Vaters


Papi und ich 1967

Mein lieber Papi


Vor einigen Tagen hast Du Deine letzte Reise angetreten. Du wärst diesen September 95 Jahre alt geworden. Ein biblisches Alter, meinen einige Freunde, wenn ich ihnen von Deinem Tod berichte. Vom Verstand her gesehen haben sie natürlich Recht. Trotzdem tut mir Dein Abschied weh. Das Herz ist eben immer noch etwas anderes als der Kopf. --- Ich vermisse Deine klare Stimme und Deine wachen Augen, die mich stets so neugierig und mit grosser Freude empfangen hatten, wenn ich auf Besuch im Pflegeheim vorbeikam. Ja, ich bin traurig, auch wenn ich mittlerweile selbst mehr als die Hälfte meines Lebens hinter mir habe.


Als ich noch ein Kind war, hatte ich unter anderem drei Postkarten an der Wand neben meinem Bett aufgehängt. Sie zeigten Giovanni Segantinis Triptychon «Werden, Sein, Vergehen». Vom Gefühl her gefiel mir «Werden» immer schon am besten, wahrscheinlich, weil sich das Kleinkind so natürlich an die Mutter anschmiegte und mir die ganze Szenerie friedvoll-lieblich erschien. Zum «Sein» hatte ich von allen drei Motiven den geringsten Bezug, vielleicht, weil mir der vornübergebeugte Gang des Bauernehepaars mit ihren Kühen und dem Kalb auf dem steinigen Weg ziemlich beschwerlich erschien. Die weissen Schneeberge, das sonnenbeschienene Wolkengebilde und das Blau des Himmels im «Vergehen» hingegen zogen die Aufmerksamkeit allein schon wegen der Intensivität der Farben auf mich, obwohl mich der Anblick der Trauernden fröstelte. Ich weiss nicht mehr, ob ich damals realisierte, dass der Pferdeschlitten auf den Sarg wartete. Dass Segantini das Bild noch gar nicht fertigerstellt hatte, erfuhr ich erst viel später.


«Herr, lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.» (Psalm 90, Vers 12)


Jetzt bist auch Du, Papi, von dieser Welt gegangen. Für Dich war das «Sein» die grösste Freude. Ich denke zurück an die vielen schönen Momente, die wir zusammen in der Familie haben verbringen dürfen. Natürlich in erster Linie an die unvergesslichen Reisen von Jugoslawien bis Schweden, von Portugal bis nach Bulgarien, von Königsberg bis Kyoto. Oder an die Musikreisen von Prag über Salzburg und Wien bis nach Verona. Auch an die Schulzeit erinnere ich mich gut, wo es hin und wieder nötig war, dass Du mit meinen Lehrerinnen und Lehrern Tacheles reden musstest: Du hast mich unterstützt, wann immer ich es nötig hatte oder Du der Ansicht warst, Dein Sohn stehe in dieser oder jener Angelegenheit mit Sicherheit im Recht (ich war es fast immer). Später hast Du bis ins hohe Alter meine publizistischen Beiträge korrigiert und dabei nicht nur nach Kommafehlern gesucht. Zwar hätte ich gerne manchmal ein bisschen mehr Lob von Dir bekommen, doch war das eine Geste, die Du, aus welchen Gründen auch immer, spärlich angewendet hast.


Ich war stolz auf Dich, auf Dich als Papi und allseits geschätzten Musiklehrer, als Verlagsleiter, als Dirigent und Organist, ja, sogar auf den Titel des Gemeinderates meiner Geburtsstadt. Jetzt, wo Du nicht mehr da bist, merke ich, dass gemeinsam erlebte Ereignisse nur einen Bruchteil unserer Beziehung ausmachen: Bedeutend tiefer geht der Teil, der über das gemeinsame Erlebte hinausgeht.


Vielleicht in die Richtung der Wertschätzung Deiner Wesenszüge: Du, lieber Papi, warst ein Mensch voller Frohmut. Deinen Mitmenschen bist Du immer mit Offenheit und Charme begegnet. Du warst überaus grossherzig. Nie warst Du nachträglich, und schon gar nicht hättest Du irgendjemandem etwas zuleide tun können, auch nicht Deinen hin und wieder frechen Söhnen, obwohl ein Klaps auf den Po wahrscheinlich in gewissen Momenten angebracht gewesen wäre. Schliesslich hatten auch wir Auseinandersetzungen, wie es sie in jeder Familie gibt. Und das noch, als ich längst erwachsen war.


Heute ist es bei vielen Leuten Mode, die Schuld für dieses oder jenes momentane Ungemach in der Kindheit, sprich bei den Eltern oder ihrer «fehlerhaften» Erziehung zu suchen. Ich glaube, man sollte – und das nicht nur, um das Vergangene ins richtige Licht zu rücken – auch die guten Eigenschaften der Eltern würdigen, die einem als Kind als Wegzeichen fürs eigene Leben mitgeschenkt wurden. Für ein wohlwollendes Gedenken und ein stilles Gespräch mit den eigenen Eltern ist es nie zu spät, auch wenn sie schon lange tot sein mögen. Selbst bei unerledigten Dingen gibt es Möglichkeiten der Reue und des Vergebens.


«Verachte den Tod nicht, vielmehr sieh ihm mit Ergebung entgegen, als einem Gliede in der Kette der Veränderungen, die dem Willen der Natur gemäss sind.» (Marc Aurel, Selbstbetrachtungen)


Der Tod sei der Lehrmeister des Lebens heisst es häufig. Das klingt einleuchtend, weil es einen aufruft, die Angst vor dem Tod zu reduzieren, die Zeit für das Wesentliche zu nutzen oder sein wahres Wesen zu entdecken. «Der Tod macht die Verantwortung des Menschen aus, denn wäre der Mensch unsterblich, käme es nie darauf an, etwas jetzt zu tun», schreibt Viktor Frankl in seinem Buch «Der Wille zum Sinn». Natürlich ist das alles richtig. Und doch. Der Tod bleibt ein Geheimnis.


Noch bevor Du, lieber Papi, vor einigen Monaten ins Pflegeheim gehen musstest, habe ich begonnen, mich vermehrt mit Texten über das Sterben und den Tod zu beschäftigen. Ich dachte, es wäre dann ein wenig einfacher, Abschied von Dir zu nehmen. Diese Lektüre hat mir auch viel geholfen, und einige Überlegungen berühmter Persönlichkeiten boten mir in der Tat Trost, vor allem im Kopf. Doch am Ende sah es anders aus.


«Michelangelos Pietà, die trauernde Mutter mit dem Leichnam ihres Sohnes, ist als Kunstwerk verständlich geblieben, als wirkliches Ereignis kaum vorstellbar.» (Norbert Elias, Über die Einsamkeit der Sterbenden)


Als ich Dich in den letzten Stunden Deines Lebens mit Deinen dünnen Ärmchen und Deinem quälendem Gesichtsausdruck im Bett gesehen habe, überfiel mich eine grosse Traurigkeit. Es war mir bewusst, dass Du gehen wirst, aber diese letzten Momente waren für mich ungemein schmerzlich. Was mir in diesem Augenblick am meisten Kraft gab, waren nicht die Worte von Theologen oder Philosophen, sondern meine körperliche Nähe zu Dir. Es war, als hätte sich das Bild gekehrt: Jetzt warst Du auf einmal das Kind und ich Dein Papi, der Deinen Kopf mit Deinen feinen weissen Haaren zärtlich umarmen und Deine Stirne streicheln durfte. Freude und Trauer waren in diesem Augenblick auf eine seltsam ausgewogene Art und Weise verbunden, wie ich es nie für möglich gehalten hätte. Vielleicht war es ganz einfach die Demut vor einem menschlichen Wesen, die sich so unerwartet deutlich angefühlt hat.


Mein lieber Papi. Ich danke Dir, dass Du da warst für mich in den vergangenen fünf Jahrzehnten und mehr. Dass wir – meine Mutti, mein Bruder und ich – überhaupt eine Familie sein konnten. Deine Liebe uns gegenüber hat Spuren hinterlassen. Das ist Dein kostbarstes Vermächtnis.


Es hat einfach gestimmt, dass Du mein Papi gewesen bist. Du hast mich auf meiner ersten Reise hinein ins Leben begleitet, und ich Dich auf Deiner letzten hinaus. Das ist ein grosses Privileg.


Du wirst auf ewig mein Papi bleiben, Dein Dich liebender Sohn Matthias

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